Differenzierung, Individualisierung und Personalisierung – Eine Annäherung

Differenzierung Kugeln

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Förderung durch Differenzierung und Individualisierung – so lautet der fünfte allgemeine didaktische Grundsatz des Lehrplans für die NMS. Darin heißt es: „Aufgabe der Schule ist es,  durch Individualisierung, Personalisierung und Differenzierung den Schülerinnen und Schülern die jeweils passenden Zugangsmöglichkeiten zu eröffnen, damit sie aktiv und zunehmend eigenständig ihre individuellen Leistungspotenziale und besonderen Begabungen entfalten können.“[1]

In diesem Blogbeitrag wollen wir die drei Begriffe genauer beleuchten: was bedeuten sie, was ist ihnen gemeinsam, was unterscheidet sie?

Differenzierung

Differenzierung ist von den drei Begriffen ohne Zweifel der am häufigsten gebrauchte. Eine einfache Definition gibt es dennoch – oder gerade deshalb – nicht: Differenzierung wird für eine ganze Reihe von Maßnahmen rund um die Unterrichtsorganisation und -gestaltung verwendet. Die Verwendung des Begriffs ist oft wenig konkret und mit unterschiedlichsten Erwartungen verknüpft. Allgemein akzeptiert ist die Unterscheidung zwischen äußerer Differenzierung und innerer Differenzierung (oder Binnendifferenzierung). [2]

  • Äußere Differenzierung ist eine fixe Einteilung von Schülerinnen und Schülern nach festgelegten Kriterien mit dem klaren Ziel, die Heterogenität der Lernenden zu reduzieren bzw. umgekehrt eine Gruppe homogener zu machen. Als solche ist sie starr, bildungspolitisch motiviert und erfordert schulorganisatorische Maßnahmen. Ein Beispiel für äußere Differenzierung sind die einstigen Leistungsgruppen in den früheren Hauptschulen. Für die mit Beginn des Schuljahres September 2020 anstehende Einführung der beiden Leistungsniveaus „Standard“ und „Standard AHS“ in den Fächern Deutsch, Mathematik und (Erste) Lebende Fremdsprache/Englisch an den Mittelschulen weist das bmbwf in seiner Broschüre ausdrücklich darauf hin, dass es sich um keine Form von äußerer Differenzierung handelt (oder handeln soll). [3] Dennoch müssen ab kommendem Schuljahr alle Schülerinnen und Schüler ab der 6. Schulstufe einem der beiden Leistungsniveaus „Standard“ und „Standard AHS“ zugeordnet werden, weshalb es eine Form der Leistungsdifferenzierung ist, die verschiedene Maßnahmen in der Schulorganisation erfordern wird. Wenn dauerhaft getrennte Gruppen gebildet werden, kommt es letztlich einer Form der äußeren Differenzierung gleich.
  • Innere Differenzierung wird generell als offene, flexible und dynamische Form der Differenzierung gesehen, die individuell von jeder Lehrerin und jedem Lehrer gestaltet wird. In der aktuellen Broschüre des bmbwf zu den Änderungen in der Mittelschule [4] wird mehrfach der Begriff ‚flexible Differenzierung‘ verwendet. Dieser wird praktisch synonym zu innerer Differenzierung gebraucht und das Ministerium verweist auf die Materialien des Zentrums für lernende Schulen zu flexibler Differenzierung [5]. Dort wird Differenzierung verstanden als „eine informierte Strategie“ [6]. Danach soll es für die Schüler/innen unterschiedliche Lernangebote geben, die zwei Bedingung erfüllen müssen:
    • Die Lehrerin / der Lehrer erstellt sie auf der Basis von konkreten Informationen über den Lernstand, die Interessen und das Lernprofil ihrer Schüler/innen (im Lehrplan wird es das „persönliche Begabungsprofil“ genannt mit Fokus auf die Stärken).
    • Zugleich müssen diese Angebote zum gleichen Lernziel führen.

Aus dieser Definition von flexibler Differenzierung wird der Anspruch deutlich, dass die Lehrperson kontinuierlich Informationen über den Lernstand der Lernenden sammelt und ständig erweitert. So kann sie eine ‚Diagnose‘ der Bedürfnisse ihrer Schüler/innen stellen und die Lernangebote für die Schüler/innen entsprechend gestalten. Dieses Verständnis von Differenzierung bezieht sich auf das Modell von Carol Ann Tomlinson [7], ein wohlbekannter Name, wenn es um Differenzierung geht.

Individualisierung

Differenzierung Pflasterstein
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Ähnlich wie von Differenzierung gibt es auch von Individualisierung nicht nur eine Auffassung: Nach Eisenmann (2019, S. 58)[8] ist Individualisierung „the maximum form of differentiation that can be achieved and (…) one of the superior goals of English teaching, in which the demands of teaching are tailored specifically to each individual learner. Individualised instruction is a kind of high-end form of differentiation which focuses on the individuality of each student (…) The role of the teacher is to create learning environments that enable individual self-learning or autonomous learning by offering options of activities which help students to feel a sense of power and ownership in the classroom.“ Nach diesem Verständnis ist Individualisierung wohl der höchste aller Ansprüche in der Unterrichtsgestaltung und im Unterrichtsalltag selbst bei größter Anstrengung wohl kaum immer zu erreichen.

Aber es gibt Unterstützung durch Lernmaterialien, wie Individualisierung ermöglicht werden kann: Die easy-Methode. Maria Eisenmann (2019, S. 58) relativiert selbst, dass Individualisierung durch Scaffolding-Angebote sehr wohl auch in der täglichen Unterrichtsarbeit umsetzbar ist. Deshalb sehen wir uns das Konzept Scaffolding genauer an:

Was heißt Scaffolding?

Das englische scaffolding heißt ‚Gerüst‘ und to scaffold ‚einrüsten, mit einem Gerüst versehen‘. Diese wörtliche Bedeutung ist auch eine passende Metapher für die übertragene Bedeutung im Unterricht: Scaffolding steht für Handlungshilfen und Unterstützungsangebote, die ich als Lehrerin oder Lehrer den SchülerInnen zur Verfügung stelle, damit sie eine Aufgabe bewältigen können. Es geht nicht darum, die sprachliche Aufgabe selbst leichter zu machen, sondern ihnen ein flexibles ‚Gerüst‘ bereitzustellen, damit alle SchülerInnen die Aufgabe schaffen können. Die SchülerInnen können individuell entscheiden, ob und in welchem Ausmaß sie diese Hilfen nützen, also das ‚Gerüst‘ zum ‚Festhalten‘ oder ‚Klettern‘ brauchen oder ihren individuellen Zugang zur Lösung der Aufgabe wählen.

Was sind Scaffolds? – erklärt an einem Beispiel

Die SchülerInnen sollen zu zweit Dialoge am Frühstückstisch („At the breakfast table“) durchführen. Dazu haben sie einerseits einen Bildimpuls von einem gedeckten Frühstückstisch (Scaffold 1) und andererseits vorgefertigte Phrasen, die die SchülerInnen individuell ergänzen und kombinieren können, um ein Gespräch rund ums Frühstück zu simulieren (Scaffold 2). Darüber hinaus steht in der Anweisung „Write a dialogue“ (Scaffold 3), erst dann gefolgt von der mündlichen Umsetzung („act it out“).

Differenzierung: easy 1 book, S.93Neben den Scaffolds, die das Buch bereitstellt, kann ich als Lehrperson individuell weitere Scaffolds vorschlagen:

  • SchülerInnen, die noch mehr Unterstützung benötigen, können zuerst alles auf dem Frühstückstisch mit den englischen Bezeichnungen beschriften (und, falls notwendig, in My new words, S. 96, nachschlagen).
  • Sie können nochmals die Frühstücksdialoge auf der vorigen Seite des Buchs als model dialogues lesen.
  • SchülerInnen, die mehr Optionen haben wollen, können den Frühstückstisch oder die aufgelisteten Phrasen noch mit eigenen Vorschlägen ergänzen.
  • Sie können die Dialoge auch in verschiedenen Rollen mit z.B. verschiedenen Vorlieben durchspielen.
  • Scaffolding in Form eines förderlichen Lernklimas kann auch durch die Interaktion mit wechselnden Gesprächspartnern ermöglicht werden, in der die SchülerInnen ihr Repertoire an Fragen und Antworten festigen, aber auch erweitern können. [9]

Das Lernziel ist stets das gleiche: Alle SchülerInnen können (einfache) Gespräche am Frühstückstisch über ihre Frühstücksvorlieben führen.

Zum Abschluss möchte ich mit Maria Eisenmann (2019, S. 63) hervorheben: „Individual work is especially useful in repetition phases and less useful in phases of elaboration.“ D.h. individuelle Zugänge zu ermöglichen ist besonders in der Festigungs- und Wiederholungsphase von Nutzen (wie im Beispiel) und weniger, wenn Neues eingeführt wird. easy book bietet den Lernenden beispielsweise auf den My task-Seiten, die am Ende der einzelnen Topics zu finden sind, vielfältige Möglichkeiten für individuelle Zugänge und persönliche Bezüge:

Das führt uns auch zum dritten zentralen Begriff, der im didaktischen Grundsatz angeführt wird:

Personalisierung

Personalisierung ist sprachliches Handeln der Lernenden mit persönlichem Bezug. Der persönliche Bezug kann sich aus Interessen, Alter, Herkunft, Schulkontext und vielem mehr ergeben. Übungen und Aufgaben sollten einen persönlichen Bezug zu den Lernenden haben, um für sie eine Bedeutung zu haben. So wird das Gelernte besser behalten.[10] Diese Sicht deckt sich auch mit dem Lehrplan (S. 11): Es soll „Auswahl und Offenheit bei der Aufgabenstellung (geben), um Raum für persönliche Bezugnahmen seitens der Schülerinnen und Schüler zu schaffen„.

Die Personalisierung von Aufgaben kann bereits in den Aufgabenstellungen im Lehrwerk enthalten sein – easy book enthält zahlreiche Aufgaben, die einen persönlichen Bezug herstellen, wie folgendes Beispiel zeigt:

Differenzierung easy book 1 S 69 Nr 6Falls dieser Bezugsrahmen bei Lehrwerksaufgaben fehlt, kann ich ihn als LehrerIn aber auch mit einfachen Adaptionen herstellen und durch mehr Lebensnähe die Qualität von Aufgaben steigern.

Weitere konkrete Beispiele folgen in den nächsten Blogbeiträgen zu Building the speaking habit und Building the writing habit.


[1] NMS-Lehrplan, S. 11, abrufbar unter: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung/Bundesnormen/20007850/Lehrpl%c3%a4ne%20-%20Neue%20Mittelschulen%2c%20Fassung%20vom%2019.06.2020.pdf

[2] siehe z.B. Eisenmann, M. (2019). Teaching English: Differentiation and Individualisation. Paderborn: Schöningh, S. 56.

[3] siehe die bmbwf-Broschüre „Die Mittelschule: Änderungen ab dem Schuljahr 2020/21″ im Überblick“, S. 9, abrufbar unter: https://www.bmbwf.gv.at/Themen/schule/schulsystem/sa/nms.html

[4] siehe die bmbwf-Broschüre, S. 14.

[5] National Competence Center für lernende Schulen (PH NÖ), abrufbar unter: https://www.lernende-schulen.at/course/view.php?id=27

[6] https://www.lernende-schulen.at/pluginfile.php/1299/mod_resource/content/1/Flexible%20Differenzierung%20rein.denken.pdf

[7] Nähere Informationen zu ihren Publikationen sind abrufbar unter: http://www.ascd.org/Publications/ascd-authors/carol-ann-tomlinson.aspx und das Modell im Überblick finden Sie hier: http://www.ascd.org/publications/books/108028/chapters/Differentiation@-An-Overview.aspx

[8] Eisenmann, M. (2019). Teaching English: Differentiation and Individualisation. Paderborn: Schöningh.

[9] Empfehlenswert für eine klare Beschreibung von Scaffolding und konkrete Vorschläge zum Thema Scaffolding (die sich auf den Englischunterricht in der Grundschule beziehen, sich aber ohne Weiteres auf den Anfangsunterricht in der Sekundarstufe übertragen lassen) ist bzw. bietet der Beitrag von Annika Kolb (2012). „Das Lernen unterstützen: Scaffolding im Englischunterricht der Grundschule“. Grundschule Englisch. Heft 40, S.42-44. Abrufbar unter: https://www.friedrich-verlag.de/fileadmin/redaktion/Grundschule/Englisch/Grundschule_Englisch/Leseproben/Grundschule_Englisch_40_Leseprobe_3.pdf

[10] Funk, H., Kuhn, C., Skiba, D., Spaniel-Weise, D., & Wicke, R. E. (2017). Aufgaben, Übungen, Interaktion. Stuttgart: Klett. S. 174.

 

Tanja Greil ist seit 2004 Fachdidaktikerin für Englisch an der Universität Salzburg. Als Englischlehrerin war sie in verschiedenen Schulen und in der Erwachsenenbildung tätig. Neben allen didaktischen Fragen rund um den Englischunterricht beschäftigt sie ihre Familie, mit der sie in Tirol lebt.

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